Die Luft flimmert, das
Himmelsblau scheint gefroren. Es ist so kalt, dass die
Schneeflocken wie Sandkörner über den weißen Boden wehen. Und
der Baikalsee dampft! Trotz der grimmigen Kälte von unter 30
Grad steigen viele schmale Nebelsäulen von der
Wasseroberfläche empor. Der Gefrierungsprozess des Wassers hat
hier seine erforderliche Temperatur noch nicht erreicht.
Nachdem mich im Sommer zuvor der russische Zauber im Norden
gefangen hat, will ich jetzt Sibirien im Winter kennen lernen.
Mit vielen warmen Sachen im Koffer und meinen Reiseführern in
der Hand glaube ich mich bestens dafür gerüstet.
Einen Tag nach Weihnachten fliege ich mit dem
Flugzeug direkt nach Moskau, wo ich eine Nacht im Hotel Kocmoc
verbringe. Am frühen Morgen fällt mein Blick aus meinem
Zimmerfenster auf das Sputnikdenkmal, offizieller Name „Monument zu Ehren der
Bezwinger des Kosmos“, mit seinem
goldschimmernden Schweif aus Titan. Dahinter wackelt der über
einen halben Kilometer hohe Fernsehturm Ostankino mit seinem Aussichtrestaurant
„Zum siebenten Himmel“.
Kälte und
ein blauer Himmel
Dieser Tag ist
schon für mich aus dem warmen Deutschland kommend
höllenkalt, als ich im schönsten Winterwetter das
halbkreisförmige Hotel verlasse. Am Ausgang fällt der Blick
auf den knallroten Coca-Cola-Automat. Er erschreckt richtig. Natürlich will er mit Dollars und
nicht mit Rubeln gefüttert werden. Auf den großen Fernsehern im Hotelrestaurant
und in der Hotelhalle läuft fortwährend der Sender Super
Channel. Eine baldige Zeitenwende in der UdSSR scheint
spürbar.
An der Südseite des Roten
Platz überquere ich die
breite Straße Moskworjetskaja. An dem unendlichen
Straßenrand sitzt einsam ein Russe mit Sonnenbrille,
Fellmütze und einer Manteljacke auf einem kleinen
Klapphocker. Neben sich hat er einen Rucksack und eine Stofftasche, aus
denen volle, klare Wodkaflaschen starren. Offensichtlich ein
Schwarzhändler, der sich ein Zubrot verdient so kurz vor dem
Jahreswechsel. Ein kleiner, junger Russe, vielleicht 13, 14 Jahre
alt, hastet in weißen Turnschuhen durch die
schneidende Kälte, die Hände in der wärmenden Jacke versenkt,
ohne den Mann auf dem Hocker mit seinen Waren zu beachten.
Ein blauer Himmel strahlt über der Basilius-Kathedrale mit
den bunten Zwiebeltürmen. Überall wimmelt es von Russen in grauen
und braunen Mützen und Mänteln. Am Eingang zum Kreml, dem Spasskije
Worota - der Erlöserturm - blitzt in der Sonne der rote Rubinstern.
Die Zeiger der Uhr im Gemäuer stehen auf kurz vor Zwölf, und hinten links am
Lenin-Mausoleum sind keine langen Warteschlangen zu sehen. Überall auf dem
Roten Platz warten Menschengruppen darauf, von den lokalen Touristenfotografen abgelichtet zu werden.
„Hier bricht alles zusammen“
Kein Flugzeug ist am stahlblauen
Himmel, als ich über die rechteckigen Pflastersteine zum Kaufhaus
Gosudarstwennyj Universalnyi Maganzin, kurz GUM
genannt, hinübergehe. Täglich sollen dort mehr als 30.000
Kunden verkehren. Doch das imposante kommunistische Kaufhaus ist geschlossen! Statt dessen
warten bestimmt mehrere Tausende Menschen
vor den verriegelten Eingängen. Vor meinen Augen fällt eine
junge Frau in der Kälte zu Boden. Die wartenden Russen scheinen
nicht zu reagieren. Doch ehe ich selbst etwas unternehmen kann, bahnt sich ein laut kreischender Rettungswagen seinen Weg durch die
Menschenmenge.
„Hier bricht alles zusammen“, sagt eine Russin mit
leerer Einkaufstüte in der Hand auf Deutsch zu mir, „Der Rubel ist nichts mehr wert. Die Perestroika ist
schuld“. Sie erzählt mir, für das Kaufhaus GUM seien
Eintrittskarten ausgegeben worden. Doch
viele Leute warteten die ganze kalte Nacht ohne Karte auf den
Einlass. „So wie diese Frau.“, und zeigt auf den
Rettungswagen. „Es sind heute schon einige in der Kälte umgefallen.“ Die
Menschen wollen Veränderung. Das ist überall zu spüren. Sie wollen leben.
In der eisigen Kälte fahre ich mit dem Bus auf die Leninberge.
Die Lomonossow-Universität im Rücken blicke ich über den
zugefrorenen Fluss Moskwa hinüber zu der Sportstadt Lushniki
mit dem 100.000 Menschen fassenden Leninstadion. Nur heute
ist wohl kein Mensch da, wie auch damals 1980 zur Olympiade nicht
ganz so viele da waren.
Neben mir wartet ein junger vollbärtiger Russe auf
Kundschaft. Mit weißen Seilen hat er sich ein kleines
ungefähr zwei mal zehn Meter großes Areal an der Straße Ulitsa
gesichert. Mit dem herrlichen Blick über Moskau will er Geld verdienen! Überall liegen Ferngläser auf der Mauer, große Fernrohre stehen auf Stativen gen Kreml gerichtet. Ein bunter
Sonnenschirm hilft gegen das Sonnenlicht. Zum Ausruhen rostet
ein ehemals weißlackierter Stahlstuhl vor sich hin. Mit dicken
Lederhandschuhen, einem grauen Mantel, dicker Hose,
schweren Stiefeln und schwarzer Wollmütze bekleidet spricht der
Moskauer in ein um den Hals gehängtes Megaphon und wirbt, so
vermute ich, für sein Leistungsangebot. Doch die Touristen, die hier Bus weise halten, stehen links und rechts von dem
Jungunternehmer und lassen sich von der blechernen Stimme nicht
stören.
Auf dem Weg zurück zum Hotel passiere ich
überraschend eine Dampfwolke. Vor lauter Wasserdampf kann ich nichts mehr erkennen.
„Das ist das Freibad.“, so erfahre
ich, „Es hat auch im kältesten Winter geöffnet“.
Schemenhaft kann ich tatsächlich einzelne Figuren ausmachen, die
im Winter ihr Heil in der warmen Nässe suchen.
Flug nach Sibirien
Vom Flughafen Domodedovo startet am Abend die Aeroflott-Maschine Ty-154M in Richtung
Irkutsk in Sibirien. Die braunrot bestickten Sitzpolster sehen
abgenutzt aus. Ich döse über dem Ural. Doch nach etwa vier
Stunden setzt die Maschine wieder zur Landung an. Da das Flugzeug in
Irkutsk wegen einer eingeschneiten Landebahn nicht landen kann,
muss sie in Nowosibirsk in Westsibirien zwischenlanden. Einige
Stunden Aufenthalt stehen uns Passagieren bevor.
Einige Fluggäste legen sich
auf den roten Plastikstühlen schlafen, andere spielen Karten. Ich spaziere im Flughafen durch einige Gänge, die
ich als
Westreisender passieren darf. Von oben sehe ich in die große
Flughafenhalle. Überall sitzen eingehüllte, dunkle bärtige Sibirjaken mit dicken Mützen, die ich eher in der weiten Taiga zu
treffen vermute, aber nicht hier in so einem nüchternen, technischen und rechtwinkligen
Betongebäude.
Durch eine offene Tür gelange ich auf das Flugfeld. Dort
trifft mich die stille Kälte mit ihrem zentralasiatischen Charme,
mir bleibt die Luft weg. Von der starken Kälte gelähmt kann
ich das scheinbar normale Arbeitstreiben betrachten: In dem
künstlichen Scheinwerferlicht landet ein Flugzeug, Tanklastwagen knirschen über den Schnee, und dick
vermummte Flughafenarbeiter bewegen sich über die Piste.
Nach mehreren Stunden werden wir Passagiere wieder in die Kälte
geschickt. Der Flug soll fortgesetzt werden. Doch an der Treppe des
Flugzeuges heißt es erst mal Warten: Die russischen Fluggäste
haben den Vortritt. Aber die sitzen noch in der warmen
Flughafenhalle. Damit mir nichts einfriert, laufe ich die halbe
Wartestunde an der Maschine auf und ab, hüpfe und springe. Die Russen mit
den dicken
Pullovern schauen etwas irritiert.
Endlich fliegt das Flugzeug weiter, ich nicke wieder in der
stickigen Kabinenluft ein. Der Morgenhimmel über Irkutsk empfängt mich
in blau, schneeweiß der Boden. Die ebenfalls blauweiße Maschine
geht in den Sinkflug und fängt an, geräuschvoll auseinanderzubrechen. Teile der grauen Deckenverkleidung fallen auf die
vorderen Passagiere. Das Eis an den Kabinenfenstern beginnt
bedrohlich an zu knistern und zu knacken. Mit meinem Pulloverärmel
wische ich mir den kalten Schweiß von der Stirn. Beim Landen
rumpelt die Maschine fürchterlich über den teilweise harten und
kantigen Schnee. Als der Flieger endlich zum Stehen kommt, hören
auch meine Adrenalinstöße auf. Ich bin wieder unten und lebe
noch.
Sieben Stunden
Zeitunterschied
Irkutsk ist die Gebietshauptstadt hier am 65 Kilometer
entfernten Baikalsee. In der Stadt selbst leben 550.000 Einwohner.
Doch bevor ich mich näher in der Stadt umsehen kann, möchte ich
zuerst ins Hotel Baikal nach Listwjanka am Ufer des Baikal. Sieben Stunden Zeitverschiebung und eine anstrengende
Flughafennacht in Nowosibirsk machen mich völlig fix und fertig.
Doch jetzt zu schlafen wäre bei der Zeitverschiebung der
größte Fehler. Mit letzter Kraft erreiche ich das Hotel und
beziehe mein Zimmer. Es ist das letzte Zimmer auf dem Gang mit zwei
Außenwänden, auf denen der kalte Wind weht.
Damit ich wach bleibe,
entschließe ich mich nach dem Kofferauspacken zu einem
Spaziergang. Mit meiner Kälteschutzausrüstung wage ich mich in
die sibirische Winterluft. Doch kaum bin ich wenige hundert Meter marschiert,
fange ich an zu schwitzen. Meinen Fleece- Gesichtsschutz ziehe ich
wieder aus. Auch mein Lederkäppi verschwindet in den weiten
Jackentaschen. Die Handschuhe entpuppen sich mit den glimmenden Herbertz-Handöfen als Fingersaunen. Irgendwie fühle ich mich
um mein Kälteerlebnis betrogen.
Das sibirische Dorf liegt ruhig da.
Nur Hunde laufen ab und zu über die
schneebedeckten Wege. Die Häuser sind größtenteils aus Holz
gebaut. Lange und spitze Eiszapfen hängen von den Dächern. Davor
stehen überall Holzzäune - kleine und große, aber alle zum
Himmel gesteckt. Hinter dem Dorf steigen die Taigawälder die
Berge empor.
Es ist Nachmittag. Die Wolken werden dichter. An der kleinen
Mauer am Seeufer hängen dicke Eiszapfen. Der mächtige Baikal - Baj
Kulj wie die einheimischen Burjaten den See nennen - ist hier an seinem
einzigen Abfluss durch den breiten Fluss Angara noch nicht zugefroren. Das
Wasser ist in Bewegung, und bei einer Wassertiefe von 1620 Metern
dauert es eben seine Zeit, bis der Baikal auch hier zufriert. So
dampft ein kleines Schiff in den Nebel, der von der
Wasseroberfläche hochsteigt, während ein Schiffsbagger
unaufhörlich mit seinem gelben Ausleger im grauen Ufersand buddelt.
Eine Frau verlässt mit ihren in
kleinen, kugelrund vermummten Kindern ein grüne
Holzhaus. Sofort ist ein kleiner zotteliger und bellender
Hund bei ihnen. Auf der Straße davor zieht ein großer dunkler
Sibirjake einen kleinen Schlitten über das Weiß, darauf zwei kleine Holzkisten geladen. Am Ufer schleppt ein
anderer, großer Sibirjake einen fast doppelt so großen
Tannenbaum über seine Schultern und bewegt sich sicher über den
Schnee. Ein leises Plätschern, ein Murmeln von den Wellen am
Uferrand höre ich. Sonst nehme ich nur eine tiefe Stille wahr.
Eine Stille ohne störende Nebengeräusche, eine unendliche Stille aus den
Taigawäldern.
Die Dorfmitte ist schnell erreicht. Kreuz und quer hängen die
Strom- und Telefonkabel über den Straßen und verbinden die
Holzhäuser. Darunter am Straßenrand sind drei grob bemalte
Verkehrsschilder an einem der vielen hölzernen Masten angebracht. Das obere
weist auf Tempo 30 hin, das mittlere auf spielende Kinder, und das
untere besagt, dass unter dem Schnee ein Zebrastreifen ist.
Warme
Kälte
Hier
auf dem Boulevard herrscht emsiges Dorftreiben. Überall
Menschen, Hunde und Schnee. An der Straßenseite zum See stehen
sechs dick verpackte Sibirjakinnen mit ihren rotweißen fünf Kilo Waschmittelpaketen mit dem schwarzen Aufdruck NEOTON.
Wie erlegtes Jagdwild präsentieren sie ihr Waschkartons, als eine
der mit Fell bedeckten Damen ihre Kamera zückt. Gleichsam ihren Männern
und Kindern tragen die Sibirjakinnen große und warme
Fellmützen. Bei ihnen sehen sie aber viel schicker aus.
Arg müde kehre ich nach diesem ereignisreichen
Tag ins Hotel zurück. Am Eingang hängt ein
Thermometer. Ich bin gespannt, wie viele Minusgrade ich schwitzend
ertragen habe. Ich bin verblüfft, gerade mal bei sieben Grad
unter Null steht die Quecksilbersäule. Ein bisschen enttäuscht
über die doch warme Kälte bin ich schon.
Aussicht auf ein Nebelmeer
Heute will ich mir aus der Höhe einen Überblick über den
Baikalsee verschaffen. Mein Ziel ist der in der Nähe gelegene
Aussichtspunkt Chersky. Es ist jetzt viel kälter als
gestern. Das Hotelthermometer zeigt am Morgen um die 30 Grad
Kälte an.
Diese Kälte kann ich hören, als meine dicken
Stiefel in das Weiß treten. Die letzten Meter zu dem
Aussichtspunkt sind über eine Treppe zu erreichen. Normalerweise
kein Problem, aber auf den Stufen liegt dickes milchigweißes, ja glasförmiges Eis. Immer wieder rutsche ich aus, lande unsanft auf
den Rücken und versuche, wie ein Käfer auf allen Vieren die
Stufen zu meistern. Wie ich es schließlich geschafft habe, weiß
ich nicht mehr. Doch nach einiger Zeit bin ich endlich unter dem großen geschwungenen Wellblechdach am Aussichtspunkt, das von vier grauen
Betonpfeilern gestützt wird. Ein weißer Eisenzaun soll
verhindern, dass Fernsichtsüchtige während des Staunens
unfreiwillig den kürzesten Weg hinab ins tiefe Tal nehmen.
Der
Ausblick auf den Baikal ist toll - obwohl ich den See gar nicht sehen kann. Denn eine dicke Nebelschicht liegt über dem
Wasser. Ich blicke wie
aus einem Flugzeug hinunter auf eine Wolkendecke, während oben
das Matschblau des sibirischen Himmels erstrahlt. In der Kälte
wage ich ein paar Fotos.
Für diese Tour habe ich extra eine mechanische Kamera
mitgenommen. Eine elektronische mit Batterien hätte mich schon
längst im Stich gelassen. Doch die Tücke steckt im Detail. Durch
die enorme Kälte gefriert das Gleitöl im Objektiv. Ich kann
nicht mehr scharf stellen, und der Rasterring für die Blende ist
auch eingefroren. Zum Glück steht die Entfernung auf unendlich.
Doch später wieder daheim muss ich bei der Entwicklung
feststellen, dass die Kälte auch die chemische Struktur in den
Filmen verändert haben muss. Denn alle Filme, die ich in der
großen Kälte benutzt habe, weisen einen Grünstich auf. Einen Rotstich hätte
ich ja noch verstanden...
Schlittenfahrt
Auf dem Rückweg benutze ich die Treppe als Rutschbahn. Auf dem
weiteren Weg träume ich von einer rasanten Schlittentour den Berg
runter. Mein Traum soll sich noch am Nachmittag erfüllen.
Viktor vom Hotel gibt mir für
meinen Rutsch einen roten Schalenschlitten mit. Es ist wieder etwas kälter geworden, die Sonne
steht knapp über der Wolkendecke des Sees. Klar wie bei
einem Zebrastreifen zeichnen sich die schwarzen Schatten der
kleinen Kiefer- und Birkenstämme auf dem eisigen Weiß ab.
Oben
genieße ich noch mal den Blick über den dampfenden Baikal, ziehe mir dann die Skibrille mit der Antinebelbeschichtung über das
Lederkäppi, hole ganz tief
Luft und stürze wie ein todesmutiger Rennrodler in die
weiße Bahn.
Nach zwei Metern bleibe ich stehen. Der Schnee ist zu
stumpf, zu pulvrig, zu kalt. Irgendwann merke ich aber, dass ich
mit einem Hebel den Bob beschleunigen und bremsen kann. Mit dann
doch flotter Geschwindigkeit jage ich durch die vier
Haarnadelkurven und lande ein paar Mal im sandigen Schnee.
Allmählich werde ich wagemutiger und schaffe es schließlich nicht mehr, an der
Straße zum Hotel rechtzeitig zu bremsen. Der Schnee wirbelt auf. Eingehüllt
in eine weiße Flockenwolke rutsche ich über die befahrene Straße und krache in
eine dicke Schneewehe. Glück gehabt, denn der herannahende Bus ist noch gut 50
Meter weg. Wie der rote Baron sehe ich aus, als ich das Hotel mit dem
geschulterten Schlitten, dem Lederkäppi und der Skibrille wieder betrete. Jetzt
fehlt nur noch der weiße Schal, sagt eine Dame im Hotel.
Messerscharfe Kälte
Die Nacht ist kalt. Der grimmig eisige Wind bläst genau aus
nördlicher Richtung auf die Außenwände meines Zimmers in der
zweiten Etage. Die doppelt verglasten Zimmerfenster sind dick zugefroren In meiner Wasserflasche, die am Fenster steht, befindet sich ein fester
Eisblock. Das Thermometer am Bett steht immerhin bei +12 Grad. Ich springe
in meine warmen Sachen und entschließe mich zu einem Spaziergang.
Doch kaum bin ich draußen, kriege ich keine Luft mehr. Es herrscht ein starker,
scharfer und eiskalter Wind. Meinen
Lungen und Atemwegen ist es viel zu kalt! Die wild treibenden
Schneeflocken in meinem Gesicht sind
wie scharfe Messerspitzen. Nur
wenn ich den Kopf mit den Händen schützend zur Seite halte,
komme ich vorwärts. Nach einigen Metern sehe ich die
Sinnlosigkeit dieses Unterfangens ein und flüchte zurück ins
warme Hotel.
Mit dem mollig warmen Gesichtsschutz, der Skibrille und ein
paar Pullovern mehr wage ich mich erneut nach draußen. Der graue
Nebel besteht aus feinen Flocken, die mit irrsinniger
Geschwindigkeit über die Straße, das Land und den See tanzen.
Ich kann mich kaum auf den Beinen halten. Wie Robert F. Scott auf
seinem Rückweg vom Südpol fühle ich mich.
Mehr schlecht als
recht stolpere ich zu den Gebäuden westlich vom Hotel gelegen.
Hier soll das Erholungszentrum für hohe Parteifunktionäre sein. Doch es sieht alles ein bisschen vergammelt aus. Dick verrußte
Autos schleichen über den schneegrauen Asphalt. An einem großen
Haus steht ein verdreckter, gelbroter Omnibus mit geteilten
Scheiben. Durch die schwarze Schicht zeichnen sich die roten
Zahlen 3971, das umgedrehte N und PA ab. Das war's an Spannung, sonst ist hier nichts
los. Durch die riesige Glasscheibe am Schwimmbad sehe ich
überhaupt nichts. Die Feuchtigkeit im Schwimmbad gefriert sofort
am Glas und hängt dick und milchig herunter.
Skilanglauf
Am Mittag verlässt eine Gruppe von Langlaufskifahrern das
Hotel. Ich begleitet sie, und mit einem Bus kommen wir zur
Abfahrt. Die Loipe ist gespurt. Aus Spaß versuche ich auch
mein Glück auf den schmalen Brettern. Doch die Langlaufschuhe
sind aus dünnem Leder.
Da ich noch nie auf Skiern gestanden habe,
wackele ich mit heftigen Ruderbewegungen der Arme und Skistöcke
jedoch ohne Sturz (!) rund zehn Meter durch die sibirische
Winterlandschaft bis zu einem klitzekleinen Anstieg. Eigentlich
kaum sichtbar, jedoch für mich unbezwingbar. Bevor ich hier eine
unfreiwillige Pirouette drehe, springe ich schnell von den Skiern.
Skilanglaufen in Sibirien, ich hab's versucht!
Kaum bin ich wieder im Bus, spüre ich meine Füße nicht mehr.
Eiskalt und kalkweiß sind sie! Ich reibe sie so fest,
wie ich kann, bis ich nach einiger Zeit merke, wie das Blut endlich
wieder durch die Zehen kreist. Schnell ziehe ich meine mehreren
Paar Socken und die Spezialstiefel wieder an und vollführe
draußen Känguru-ähnliche Sprünge. Es hilft!
Der Sturm vom Morgen ist vorbei. Sogar die Sonne schimmert
wie ein weißer Ballon durch
den Nebel. Ein Motorrad mit Beiwagen knattert über die
Schneedecke. Ich wate durch den Schnee zum Ufer der Angara an der
Mündung zum Baikal. Leichter, säulenförmiger Dampf steigt an der
Wasseroberfläche empor. Eine unwirkliche Szene: Um die 30 Grad
Kälte herrscht, das Wasser plätschert, der Schnee ist
sandig und die Sonne scheint trotz des Nebels. Und mir ist es
mittlerweile wieder warm.
Picknick im
Schnee mit Wodka
In der Nähe hat Viktor vom Hotel ein Feuer entzündet, auf dem
er Fleischspieße grillt. Damit sollen sich die Skilangläufer
wieder etwas aufwärmen. Ich nehme mir einen langen Spieß vom
Rost. Doch kaum beiße ich in das Fleisch, ist es in der Kälte
schon erkaltet, ja eigentlich wieder gefroren. Nach jedem Bissen lege ich den
Spieß auf den Grill zurück.
Ein Freund von Viktor will
vorführen, wie die Sibirjaken mit der Kälte umgehen. Er zieht
Jacke und Pullover aus und steht mit nacktem Oberkörper in der
sibirischen Wintertaiga. Doch damit ist es nicht genug. Zu meinem
Erstaunen reibt er sich auch noch mit dem kalten Schnee ein. „Das wärmt!“, übersetzt mir Viktor. Selbst
ausprobieren will ich das aber nicht.
Neben dem Fleisch von der
kalten Glut kreist die Wodkaflasche. Die scheint hier immer dazu
zu gehören. Außerdem ist heute Silvester; da feiern die Sibirjaken besonders gerne, höre ich. Die Stimmung steigt am letzten
Nachmittag des alten Jahres. Viktor schnellt die mit heißem Tee
gefüllte Tasse in die Höhe, es knistert, und zu Boden fallen
kleine Eisbrocken mit Pfefferminzgeschmack. Eindrucksvolle Kälte.
Silvester bei minus 25 Grad
Viele Touristen legen sich im Hotel schlafen, um für die
Silvesterfeier fit zu sein. Der Saal ist festlich geschmückt; die
Tische sind zusammengerückt. Darauf stehen Krimsekt und Wodka,
Blutwurst und Schweinefleisch in Aspik, reichlich Omul - eine
leckerer Fisch aus dem Baikal - und eimerweise Kaviar. Das
sind nur einige von den vielen köstlichen Spezialitäten auf dem sibirischen
Silvestertisch.
Alle Gäste sehen schick aus. Selbst die Angestellten
des
Hotels haben sich in Schale geworfen. Eine Kapelle mit
unaussprechlichem Namen spielt nach dem Essen zum Tanze. Über den
Köpfen der Musiker hängt ein Elchkopf mit weitem Schaufelgeweih. Das Fest
beginnt!
Von Steifheit keine Spur. Die Sibirjaken sind herzliche
Menschen. Ich werde von einer jungen
hübschen und etwas unkonventionell gekleideten Russin zum
Freistil-Tanze gebeten. Ihre Strumpfhose ist silberschwarz geringelt, ein schwarzer Minirock zeigt eher, was er bedecken
müsste, und ein silbernes Jäckchen gibt dem tanzendem Wesen das
galaktische Flair einer Außerirdischen.
Jetzt stürmen die
Walküren aus der Küche das Parkett, schnappen sich die noch
restlichen Männer zum Ringelpietz mit Anfassen. Der Saal bebt. Selbst Väterchen Frost rockt in silbrig-roter Robe mit seiner
Schneeflocke. Nur der sibirische Hotelfotograf sitzt in
seiner Jogginghose, der fast quadratischen
Brille und dem russischen Leica-Nachbau einsam
in der Ecke.
In einer anderen Ecke feiern
schick junge Russen. Heiße Blicke wirft mir die junge Lena immer wieder am Krimsekt nippend
zu. Süß
sieht sie mit ihren roten Backen aus. Olga wird schon
freizügiger, der weite Schlitz im schwarzen Kleid unterstreicht
ihre vermeintliche Absichten. Auch sie prostet mir mit dem vollen
Sektglas und Augenaufschlägen zu. Doch vom anderen Tisch kommt plötzlich Vladimir, brummt mich an wie ein sibirischer Bär und haut
klatschend mit der rechten Faust in seine linke Pranke. Welche
der beiden seine Angetraute ist, kann ich leider nicht in
Erfahrung bringen.
Import Export
Vladimir macht Geschäfte, erzählt er mir zwischen zwei
Wodkas in
Broken Englisch: Import Export. Wenn ich
möchte, organisiert er einen Militärhubschrauber, und wir können im Tiefschnee im
Gebirge Ski fahren. Ich möchte nicht, da ich
nicht Ski fahren kann, und wir trinken Bruderschaft.
Anschließend
muss ich mit allen Russinnen und Russen Geschwister- bzw. Bruderschaft trinken, denn es ist
Mitternacht. Das neue Jahr
fängt an. Zum Glück verhindert das fettige Essen einen
Vollrausch. Unzählige wilde Tänze mit wilden Russinnen folgen.
Nach jedem Tanze muss ich aber erst mal vor dem Hotel frische Luft
tanken und genieße dabei die minus 25 Grad. Hier ist halt alles extrem.
Gegen sieben Uhr morgens gehe ich als einer der letzten ins
Bett. Trotz des augenscheinlich hohen Alkoholkonsums bleibt alles
heftig gesittet Keine Schnapsleichen liegen unter dem Tisch. Es
war einfach eine Superstimmung. In Deutschland stoßen die
Daheimgebliebenen erst jetzt auf das neue Jahr an. Sieben Stunden
Zeitverschiebung, und meine innere Uhr pendelt eigentlich noch immer im MEZ+1-Takt.
Der Baikal dampft
Mit wenig Schlaf komme ich aus. Nach einem heißen Bad
sitze ich wieder klar und fit gegen 11 Uhr am Frühstückstisch. Er
ist ziemlich leer. Viele Leute werde ich heute wohl nicht sehen. Mit
Angelika, einer Apothekerin aus Berlin, die auch im Hotel
wohnt, mache ich einen langen Neujahrsspaziergang durch das
winterliche Sibirien.
Das Wetter ist gut, der Baikal dampft, und am Ufer
liegen festgefroren die Fischerboote. Die Neujahrsstimmung ist
einmalig! Junge Hunde mit dickem Fell begrüßen uns freudig
bellend. Die meisten Häuser sind schwarz geteerte Blockhäuser mit
schneebedeckten Wellblechdächern und Kaminen, die Fenster sind
mehrfach isoliert und bunt umrahmt.
Heiligenbilder und Heilige
Kerzlein
Wir waten durch den Schnee zum
alten Dorf, passieren einen völlig zugefrorenen und vereisten
Bach und erreichen schließlich eine alte Kirche, die hölzerne St.
Nikola-Kirche hier in Listwjanka. Eine Treppe führt zu dem kleinen weißen Holzbau, den ein kleiner grüner Turm ziert, auf
dem eine weiße Kugel mit einem Kreuz sitzt. Am Fuße der Treppe
warnt ein verrostetes weißes Emailleschild in russischer und
englischer Sprache: „NO SMOKING ON THE TERRITORY OF
CHURCH“.
Eine junge Sibirjakin mit rotem Rock(!) und grüner
Jacke beäugt uns neugierig. Obwohl Angelika etwas russisch
spricht, kann sie sich nicht mit dem russischen Mädchen verständigen. Sie ist wohl recht schüchtern.
In der Kirche ist es so kalt wie draußen. Über der
Eingangstür ist ein Jesusbildnis angebracht, darunter spendet
eine schwache Birne nur wenig Licht. Etwas heller ist es am
Fenster, wo zwei alte Sibirjakinnen dick verpackt sitzen und
Zeitung lesen. Sie verkaufen Heiligenbilder, Bücher und Heilige
Kerzlein.
An den Wänden hängen Dutzende von Ikonen. Angelika
sagt mir, dass dies hier eine russisch-orthodoxe Kirche sei. Leise
verlassen wir den Ort der Stille und rutschen über den völlig vereisten
Bach der roten Abendsonne entgegen.
Heiße Tänze
Am Hotel begegne ich auf meinen
Russinnen Lena und Olga vom Vorabend wieder. Ohne sichtbare Spuren haben sie den Vorabend
überstanden. Obwohl ich in weiblicher Begleitung bin, laden sie
mich mit feurigen Blicken zu einem heißen Saunabad ein. Mein inneres Ohr
erinnert sich an das Geräusch von Viktors klatschender Faust. Nur mit Mühe kann ich das Angebot der beiden reizenden Wesen
ausschlagen, die schon mit Handtücher und Wodkaflasche
ausgestattet auf dem Weg sind...
In der Hotelbar treffe ich viele der Sibirjaken aus der
Silvesternacht wieder. Bestens erholt feiern sie weiter. Die
Flaschen kreisen erneut, auch wenn heute mehr Saft- und
Limoflaschen auf dem Tisch stehen.
Das außerirdische Wesen von der
letzten Nacht hat ihre Silberweste gegen ein rotes Hemd, und ihre beringelte Beinkleidung mit dem vermuteten Rock gegen eine
eng sitzende schwarze Jeans getauscht. Mit ihren
sibirisch-mongolischen, pechschwarzen, blitzenden Augen, dem
vollroten Lippen und den brustlangen, braunen und wilden Haaren
packt sie mich am Arm und zerrt mich lachend auf die Tanzfläche.
So stelle ich mir einen feurigen Zigeunertanz vor. Ich komme ganz schön ins
Schwitzen und bin wieder völlig verzaubert!
Feuer und keine Wachsoldaten
Heute will ich mir Irkutsk näher
anschauen. Mit Angelika fahre
ich mit dem Linienbus dorthin. Zu sehen gibt es nichts aus den
Busfenstern, da die Atemluft sofort an den kalten Scheiben
gefriert. Obwohl ich mich jetzt schon an die
sibirische Kälte gewöhnt habe, trifft sie mich beim Aussteigen
wie ein Keulenschlag. Wir sind jetzt über 60 Kilometer vom
Baikalsee entfernt. Die Kondenswärme des Sees spielt hier keine
Rolle mehr. Der breite Fluss Angara ist dick mit Eis zugedeckt. Selbst die Luft
ist gefroren. Wir schauen durch ein unwirkliches kristallenes
Licht.
In der Nähe der weißgoldenen Erlöserkirche (Spásskaja
Zérkokow) - der ältesten Kirche Irkutsks von 1710 (für
Touristen nicht freigegeben) - ist auch das Ehrenmal für die
Gefallenen. Es erinnert an die ersten Pioniere in Sibirien.
Eine Flamme lodert in der Mitte. Die Wachsoldaten, die sich laut
Reiseführer hier eigentlich alle 15 Minuten ablösen sollen, sind
nicht zu sehen.
Etwas weiter ist die Kreuzerhöhungs-Kirche
(Krestowosdwischénskaja Zérkow) gelegen. Mit einer Touristengruppe gelangen wir in
die Kirche. Ein merkwürdiges Szenario empfängt uns: Rund 30 bunt gekleidete Westtouristen mischen sich unter mehrere heulende,
klagende und jammernde Sibirjakinnen. Entweder wird hier eine Beerdigung
zelebriert, oder es sind
Klageweiber, wie Angelika vermutet. Wir fühlen uns völlig
fehl am Platze, verlassen schnellstmöglich die Zeremonie und
schämen uns für die schamlosen Touristen.
Rekord mit
minus 42 Grad
Vor der weißen Kirche mit den grünen Zwiebelkuppen sind viele
Gräber. Auf einem liegt ein kleiner frischer Strauß mit vier roten und
einer weißen Nelke, die
in der Kälte mit einer aschfahlen, weißen Eisschicht überzogen
sind. Vor dem Gotteshaus spricht mich eine Russin auf Deutsch an.
Sie fragt mich, wie ich mit der Kälte zurechtkomme. Dick
eingepackt murmele ich „Gut, gut“, soweit ich durch den
Schal zu verstehen bin. „Minus 42 Grad, der kälteste Tag bis
jetzt in diesem Winter“, ruft sie mir mit einem Lachen
entgegen und verschwindet zwischen den schwebenden, halb
durchsichtigen Kristallen. Wir können es kaum glauben.
Ein paar Straßen weiter betritt Angelika ein altes,
zweigeschossiges herrschaftliches Haus, die Fassade in zartrosa Farbe. Über der
Tür hängt ein weißes Schild mit blauer Schrift: Anteka -
Apotheke. Es erinnert mich eher an ein Saloon-Schild aus
dem Wilden Westen. Als Apothekerin mit eigenem Geschäft in Berlin
interessiert sich Angelika natürlich für das sibirische Pendant.
Die Ladentheke ist aus weißem Holz mit Glasvitrinen. Durch die
Scheibe können wir fein säuberlich geordnet braune Glasflaschen,
Salben in Tuben und weiße rechteckige Medikamentenpackungen
sehen. An der einen Wand stehen große gläserne
Vitrinenschränke, Spiegel sind als Rückwände angebracht. Auch
dort sind ordentlich Glasflaschen, Tuben und Packungen
aufgeschichtet. An der anderen Wand steht der klassische
Apothekerschrank in russischer Ausführung, etwas größer die
kleinen Schubfächer und dreifach übereinander die größeren,
weißen Schränke.
Leise murmelnd versucht Angelika, die
russischen Wörter auf den Verpackungen zu entziffern. Die
Apothekerin in weißem Kittel mit weißem Häubchen hinter der
Theke bedient inzwischen vier grauschwarz gekleideten
Sibirjakinnen mit ihren pechschwarzen Pelzmützen. Angelika
gefällt die schlichte, zweckmäßige Ausstattung.
Mir schwirrt mittlerweile der Kopf wegen der vielen russischen
Namen, ich kann sie nicht mehr behalten. Zu meinem Glück
übernimmt Angelika die Bestellung, als wir in einem der fünf
Irkutsker Hotels zu Mittag essen.
Asiatische Schönheit
An dem Nebentisch sitzt
eine Familie entweder aus der nahen Mongolei oder vielleicht
Burjaten. Eines der Mädchen ist von einer
unglaublichen Schönheit. Die schwarze Farbe der typischen Augen
ist von einer Perfektion, wie ich sie noch nie gesehen habe. Ich
versinke in einem asiatischen Augenmeer mit all seinen unendlichen,
fernöstlichen Geheimnissen und Weisheiten. Nur schwer kann ich
mich von diesem Gesicht losreißen.
Beim Verlassen des Hotels spricht uns in der Kälte ein
Sibirjake an. Mit seiner schlichten, grauen Kleidung redet er mit
einer heiseren, ruhigen Stimme auf uns ein. Angelika kann ihn
nicht verstehen. Mit einem Lächeln drückt er uns einige alte
Fotografien in die Hände und entfernt sich freundlich grüßend.
Angelika und ich schauen uns verdutzt an und betrachten die alten
Bilder aus Irkutsk, die uns der Mann gegeben hat. Alte
Stadtansichten sind es, wie sie früher an Touristen verkauft
worden sind.
In der Mitte der Stadt liegt das große Warenhaus. Von innen
unterscheidet es sich eigentlich nicht von denen bei uns. Nur gibt
es hier keine Werbeschilder, und die Vitrinen erinnern eher an die 1960er Jahre.
Selbstgemachter Russe
Hier kaufe ich mir den Baikalstein. Es ist Nephrit,
ein Mineral das laut meinem Reisebüchlein nur am Baikal vorkommt. Es schimmert schwarzgrün in meiner Hand. Außerdem will ich
mich der russischen Kleidung etwas anpassen und kaufe mir einen schweren groben,
grauen Stoffmantel, der ein schwarzes
Plastikfellrevers hat und eine schwarze Plastikfellmütze. Mit
meinem Bart sehe ich jetzt aus wie ein Russe - sagt Angelika.
Draußen ist es endlich vorbei mit der
Anstarrerei, die mir als
offensichtlicher Westtourist zuteil wurde. Zwar trage
ich noch meine westeuropäischen Wanderstiefel, aber gerne hätte ich
mir diese Wappis gekauft - diese dicken sibirischen Filzstiefel ohne
Sohle, die mit der Prawda ausgestopft werden. Doch meine Reisetaschen sind schon schwer genug.
Wir schlendern und schliddern über den Schnee die Straßen
entlang. Die Luft ist diesig und gefroren. Die russischen Autos
qualmen über den vereisten Asphalt. Bunte Steinhäuser wechseln
sich mit rauhen Holzhäusern ab. Die Fassaden scheinen mit ihren
kunstvollen Verzierungen und den zarten Farben zu leben. Ein
Wunder in der Kälte. Ich dagegen merke, wie ich anfange, langsamer
zu denken, anfange, mich
langsamer zu bewegen und anfange, langsamer zu sprechen. Die Kälte
kriecht gnadenlos durch meine kalten Sachen.
Mit dem Taxi durch die Taiga
Zurück nach Listwjanka nehmen wir uns
für die rund 60 Kilometer eins von den Taxis, die hinter dem
Kaufhaus stehen. Voll bepackt sitzen wir in der Dieselschleuder. Der Chauffeur ist dick vermummt. Das Selbstbewusstsein des Fahrers
überrascht uns, wie er mit doch hoher Geschwindigkeit über den
bröckeligen Asphalt der sibirischen Winterlandstraße huscht.
Die
Windschutzscheibe ist wegen der großen Kälte gesprungen, wie bei
allen Autos in Irkutsk, die wir sehen. Lang und weit ist der
russische Highway, den die Russen Baikal'skiy tract nennen
und dessen fernes Ende sich im weichen
Abendnebel verliert. Eine Stunde später erreichen wir wieder das
Hotel, wo uns der Fahrer direkt am Eingang raus lässt.
Heute ist der Abschiedsabend für die Touristen, die morgen
wieder nach Moskau zurückfliegen. Viktor hat sich ein Akkordeon
umgehängt und spielt russische Lieder. Auf den Tischen stehen die Krimsekt- und Wodkaflaschen. Die Stimmung ist mal
schwermütig, mal fröhlich - halt so, wie Viktor uns mit seinem
Instrument verzaubert. Der Abschied fällt schwer,
denn viele Eindrücke müssen erst noch
verarbeitet werden.
Am nächsten
Tag bringt mich das Flugzeug
zuerst wieder in die
russische Metropole Moskau. Auch Angelika reist mit zurück. Unser beider
Urlaub ist zu Ende. Aber im Geiste sind wir noch am
Baikal, spüren die eisige Kälte, schmecken den Omul und trinken
sibirischen Wodka...
|